17. Türchen: Ikone Blauer Engel I

Die Visite

Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.

Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.

Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich sie sind.

Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Farbe Blau, sagte er,

fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was sie tun oder lassen,

gar nicht zu reden vom Feldspat
und von der großen Magellanschen Wolke.

Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.

Ich sah es an seinen hellen Augen, er hoffte
auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.

Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

Enzensberger


16. Türchen: Das Nahe

 

„Ich ließ meinen Engel lange nicht los“ Vertonung von Michael Knopp. Die „Engel-Lieder“ sind im CD-Shop von Michael Knopp erhältlich.

 

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
Und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
Er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

R. M. Rilke


15. Türchen: Dunkler Engel und lichter Engel

Dunkler Engel und lichter Engel


Der Rebell

Wütend stößt ein Engel wie ein Adler nieder,
fasst den Schopf des Zweiflers mit den Fäusten, roh,
Schüttelt ihn und sagt:“ Du lernst die Regel wieder!
(Ich, dein guter Engel, hör!) Ich will es so!

Lieben sollst du, ohne alle die Grimassen,
Arme, Böse, Toren, Krüppel jederzeit,
dann kannst Jesu du vorüberschreiten lassen
auf dem stolzen Teppich aus Barmherzigkeit.

So ist Liebe! Ehe dein Herz verhärten kann,
zünd Ekstase neu an Gottes Glorie an;
das ist Wollust, die beständigen Reiz verspricht!“

Jener Engel, heftig strafend wie er liebt,
dem Verfluchten seine Faust zu spüren gibt;
aber der Verdammte sagt stets nur:“ Ich will nicht!“

Charles Baudelaire


14. Türchen: Schattenengel und Schattenleib

„Ohne Wunde“ Text u. Vertonung von Michael Knopp. Die „Engel-Lieder“ sind im CD-Shop von Michael Knopp erhältlich.

Fallen

Fallen
Die Himmel halten nicht
Kein Engel hält

Fallen
Nicht Flügel breiten sich
Jenseits der Welt

Fallen
Wo fremd das Liebe weicht
Ich fürchte mich sehr

Fallen
Durch das vielmehr
Ende dem Anfang gleicht

Fallen

Ernst Meister


13. Türchen: Segnender Engel

In weiter Ferne, so nah

Ihr – ihr, die wir lieben
Ihr seht uns nicht
Ihr hört uns nicht

Ihr wähnt uns in weiter Ferne
doch sind wir so nah

Wir sind Boten
die Nähe zu tragen
zu denen in der Ferne

Wir sind Boten
das Licht zu tragen
zu denen im Dunkeln

Wir sind Boten
das Wort zu tragen
zu denen die fragen

Wir sind nicht Licht
Wir sind nicht Botschaft
Wir sind die Boten

Wir sind nichts
Ihr seid uns alles

Aus dem Film „In weiter Ferne so nah“ von Wim Wender


Zum Filmausschnitt „In weiter Ferne so nah“ (Dialog der Engel Cassiel und Raphaela)


 


12. Türchen: Engel

Engelraum Ausschnitt

Ich bin nicht Ich

Ich bin jener,
der an meiner Seite geht,
ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

Jiménez

Dieses Engelbild gehört zur Engelraum-Installation: hier

11. Türchen: Mein Engel

„Mein Engel“ Vertonung von Michael Knopp. Die „Engel-Lieder“ sind im CD-Shop von Michael Knopp erhältlich.

Mein Engel

Mein Engel, der mich schützt, den ich verließ, du,
Um diesen schönen Leib, weiß wie ein Fliedervlies, du,
Ich bin allein heut. Halte meine Hand in deiner Hand.

Mein Engel, der mich schützt, den ich verließ, du,
Als Kraft mir meinen Freudensommer sprossen ließ, du,
Ich bin betrübt heut. Halte meine Hand in deiner Hand.

Mein Engel, der mich schützt, den ich verließ, du,
Als ich verschwendend mit den Füßen Goldherbst stieß, du,
Ich bin verarmt heut. Halte meine Hand in deiner Hand.

Mein Engel, der mich schützt, den ich verließ, du,
Als ich beim Schnein auf Dächer träumte dies und dies, du,
Ich weiß nicht mehr zu träumen. Halte meine Hand in deiner Hand.

Francis Jammes


10. Türchen: Ikone Violetter Engel

Groß wie ein Pfahl

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.
Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.
Den Hungernden hat er Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
und er hört, wenn du ihn rufst, in der Nacht,
der Engel.
Er steht im Weg und er sagt: Nein,
der Engel,
groß wie ein Pfahl und hart wie ein Stein –
es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.

Rudolf Otto Wiemer


9. Türchen: Engel Raphael

Was vom Engel übrig blieb

Frühmorgens,
alle Bäume sind noch eingebunden
und die Dinge unberührt,
erhebt sich zwischen zwei Pappeln der Engel,
schläft im Fluge aus.

In den Rissen des Schlafes singt er.
Wer als erster die Gasse betritt,

verwundet wird von diesem Gesang,
vielleicht ahnt er etwas,
aber er sieht es nicht.

Jan Scacel

8. Türchen: Engel Zeichnung

„Freier Engel“ Rilke-Vertonung von Michael Knopp. Die „Engel-Lieder“ sind im CD-Shop von Michael Knopp erhältlich.

Von Engeln

Man hat euch die weißen Kleider genommen,
die Flügel und selbst das Sein,
ich glaube euch dennoch,
Boten.

Die umgestülpte Welt,
das schwere Gewebe, bestickt mit Sternen und Tieren,
durchwandelt ihr, die wahrhaftigen Nähte betrachtend.

Ihr rastet hier kurz,
wohl in der Morgenstunde bei klarem Himmel,
in der Melodie, die ein Vogel nachsingt,
oder im Duft der Äpfel im Abenddämmer,
wenn Licht die Gärten verzaubert.

Man sagt, es hätte euch jemand erdacht,
doch mich überzeugt das nicht.
Die Menschen haben sich selbst genauso erdacht.

Die Stimme – ist wohl Beweis,
weil sie ohne Zweifel von klaren Wesen herkommt,
die leicht sind, beflügelt ( warum auch nicht ),
mit Blitzen gegürtet.

Ich habe im Traum diese Stimme manchmal vernommen
und, was noch seltsamer ist, in etwa verstanden
den Ruf oder das Gebot in der überirdischen Sprache:
bald ist es Tag,
noch einer,
tu, was du kannst.

Czeslaw Milosz